neuroRAD 2018 – Kognition ohne Kortex

neuroRAD 2018 – Kognition ohne Kortex

Der Mensch hat einen großen und gut vernetzten Neokortex und ist deshalb schlau, Tauben und andere Tiere ohne Kortex sind dumm. Diese lang gehegte Annahme der Hirnforschung ist falsch. Die Gründe erklärte der Bochumer Biopsychologe Onur Güntürkün in seiner Key Note Speech.

  • Präsentationstag:
    05.10.2018 0 Kommentare
  • Autor:
    kf/ktg
  • Sprecher:
    Onur Güntürkün, Institut für Kognitive Neurowissenschaft Bochum
  • Quelle:
    neuroRAD 2018

„Das schlaueste Tier auf dem Planeten ist der Mensch, das glauben wir seit der Forschung von Ludwig Edinger“, sagte Güntürkün. Dahinter verberge sich die These, dass die einzelnen Bereiche des Gehirns – vom Stammhirn bis zu Neokortex – im Lauf der Evolution aufeinander geschichtet wurden und die kognitiven Fähigkeiten von dieser Schichtung und deren Vernetzung abhängen.

Tatsächlich ermöglichten die vertikalen Kolumnen des Kortex sozusagen eine tiefe Inhaltsanalyse der zu verarbeitenden Reize. Die horizontalen Kolumnen, vor allem die supragranuläre Schicht, erlaube alles mit allem zu vernetzen. „Der Neokortex ist in seiner Architektur fast nicht verbesserbar“, so Güntürkün.

Edinger lag falsch

Die Folgerung daraus: Dies erlaube eine hohe Intelligenz. Bei Tauben hingegen gebe es keine kortikale Struktur, die Intelligenz sei also niedrig. Zudem sei bei Säugern das Hirngewicht groß. All dies mache sie so schlau. „Die Theorie von Edinger – die Amygdala alt, der Neokortex neu – hat sich fast hundert Jahre gehalten, aber sie ist falsch, alles falsch“, so Güntürkün. Die Erkenntnis verdankt er unter anderem Verhaltensexperimenten zu kognitiver Flexibilität bei Vögeln.

Sind Vögel dumm?

Ein Beispiel ist die Objektpermanenz bei Elstern (Pollock 2000). Objektpermanenz heißt, dass ein Lebewesen weiß, dass ein Objekt oder ein Person auch noch dann existiert, wenn sie sich außerhalb des Wahrnehmungsfeldes befindet, also beispielsweise hinter einem Vorhang. Elstern durchlaufen beim Lernen dieser Objektpermanenz die gleichen sechs Stufen wie Menschen, einige Stufen nehmen sie sogar schneller.

„Wir haben uns dann gefragt, ob kognitive Leistungen bei Vögeln zwar exzellent sind, dafür aber in sehr engen Grenzen“, so Güntürkün. Versuche in vielen kognitiven Bereichen belehrten ihn eines Besseren (Güntürkün und Bugnyar 2016). In den verschiedensten Bereichen – von der Selbsterkennung über Schlussfolgern bis zur Belohnungsverzögerung – waren Rabenvögel und Papageien ebenso gut wie Primaten, in einigen sogar besser. „Die Vögel können logisch denken, erkennen sich selbst im Spiegel und sind fähig, sich in andere hineinzuversetzen“, erläuterte Güntürkün.

Haben Vögel einen Kortex?

Eine Erklärung konnte das reine Betrachten der Gehirnarchitektur nicht bieten. Güntürkün suchte deshalb bei den Vögeln nach dem Zelltyp „kortikales Neuron“.

Tatsächlich ließ sich dieser Zelltyp bei Vögeln finden. „Vögel haben kortikale Neuronen, sie sind allerdings anders geschichtet“, so Güntürkün. Ist bei Reptilien die Rindenschicht am äußeren Hirnrand (dem Pallium) noch dreilagig, so haben Säuger diese Schichtenzahl verdoppelt, Vögel hingegen haben die Laminierung aufgegeben. Die Grundsubstanz des Kortex sei demnach über 300 Millionen Jahre alt, bei Primaten sei die Schichtung die evolutionäre Neuerung, bei Vögeln sei hingegen die „Nicht-Schichtung“ das Neue.

Sind Vogelhirne nicht sehr klein?

Vogelgehirne sind zwar klein, enthalten allerdings pro Gramm Pallium erheblich mehr Nervenzellen als das der Primaten. „Die Neuronendichte pro Volumen ist bei Vögeln im Vergleich zum Affen sechsmal höher“, so Güntürkün.

Ob die höhere Dichte Vorteile bringe, habe ihn jahrelang beschäftigt. Die Geschwindigkeit der Signalweitergabe von Nervenzellen ist bei Vögeln und Säugetieren gleich. Darum lag die Annahme nahe, dass durch die höhere Neuronendichte im Vogelgehirn Informationen schneller verarbeitet werden als bei Säugern.

Ein Multitasking-Experiment lieferte die Antwort, dass diese These für bestimmte Aufgaben stimmt: In dem Experiment mussten 12 Tauben und 15 Psychologiestudierende eine gerade ablaufende Handlung stoppen und schnellstmöglich zu einer Alternativhandlung wechseln. Der Wechsel erfolgte entweder gleichzeitig oder nach einer kurzen Verzögerung von 300 Millisekunden. Im ersten Fall fand ein „Multitasking“ statt, das heißt zwei neuronale Prozesse liefen parallel. Durch die Doppelbelastung wurden Menschen wie Tauben in gleichem Ausmaß langsamer.

Anders in Fall zwei, der „Kaskadierung“, bei der zwei Prozesse hintereinander ablaufen. Hier waren die Tauben aufgrund der höheren Neuronendichte tatsächlich 250 Millisekunden schneller als die Menschen.

„Die Konnektivität des Gehirns bei Vögeln ist dem von Menschen ähnlich – der Natur fällt quasi nicht viel Neues ein“, kommentierte Güntürkün. Funktion gehe vor Form. „Die Freiheitsgrade für Mechanismen kognitiver Entwicklung sind vielleicht gar nicht so groß wie wir glauben“, so Güntürkün abschließend.

Leib/Seele und Kapuzineraffen

„Dies alles widerspricht dem, was in meinem Lehrbuch steht“, sagte der NeuroRAD-Kongresspräsident Martin Wiesmann, RWTH Aachen, und bedankte sich für Güntürküns Einblicke in ein sich grundlegend wandelndes Forschungsfeld.

In der anschließenden Diskussion wurde Güntürkün nach Erkenntnissen über das Leib/Seele-Bewusstsein gefragt. Er verwies auf Experimente, in denen Menschen Liquid-Shutter-Brillen aufgesetzt kamen. Das sind Brillen, die sich für jede Seite elektronisch zwischen durchlässig und undurchlässig umschalten lassen – auf die undurchlässige Seite lassen sich dann Bilder oder Filme projizieren. Er berichtete von einem Experiment, in dem auf ein Auge für einen sehr kurzen Zeitraum das Bild eines Vampirs projiziert worden war. Habe man die Probanden danach gefragt, ob etwas Ungewöhnliches oder Beängstigendes vorgefallen sei, hätten sie verneint. Die gleichzeitige Messung ihres Schweißausstoßes zeigte allerdings eine deutliche körperliche Reaktion auf das Bild. „Damit können wir Diskrepanzen zwischen subjektivem und objektivem Eindruck filtern – das gilt als Indikator für Bewusstsein“, erläutere Güntürkün.

Eine weitere Frage drehte sich darum, ob bei Tieren Konstrukte wie Moral oder gut und böse erkennbar seien. Eine spannende Diskussion darüber gebe es seit langem, antwortete Güntürkün und verwies auf Experimente des niederländischen Verhaltensbiologen Frans de Waal. Er und seine Kollegin Sarah Brosnan trainierten Kapuzineräffchen darauf, Spielsteine gegen ein Stück Gurke zu tauschen. Später erhielt einer von zwei Affen für den gleichen Spielstein eine Weintraube – im Vergleich zur Gurke eine Delikatesse. Sah der andere Affe die ungerechte Verteilung, weigerte er sich danach, seinen Spielstein zu tauschen – oder verschmähte schließlich sogar eine angebotene Traube. Bekam ein Affe eine Traube, ohne einen Spielstein hergeben zu müssen, warfen die anderen Affen ihre Spielsteine und zum Teil ihre Gurkenreste aus der Versuchskammer. „Das könnten Indikatoren für so etwas wie moralisches Verhalten sein, aber der Bereich ist ein offenes Feld“, kommentierte Güntürkün.

Er schloss seine Ausführungen mit einem Appell an junge Forschende und deren GeldgeberInnen: „Grundsätzliche Veränderungen in Konzepten hätten wir nicht ohne auf den ersten Blick verrückte Forschung – wenn Sie wirklich bereit sind, in ein derartiges Feld zu gehen, dann tun Sie es!“

 

Referenzen

Güntürkün O, Bugnyar T
Cognition without Cortex
Trends Congn Sci 2016;20(4):291-303

Letzner S, Güntürkün O, Beste C
How birds outperform humans in multi-component behavior
Current Biology 2017; 27(18): PR996-R998

Pollock B, Prior H, Güntürkün O
Development of object permanence in food-storing magpies (Pica pica)
J Comp Psychol. 2000;114(2):148-57

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